Vision, Fiktion oder schon Realität?
Steuerungstechnik aus der Cloud
Wird Steuerungstechnik aus der Cloud zur Realität? 2012 war die Idee hierzu von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen Einsatz im Werkzeugmaschinenbau als "ungeeignet" erachtet worden. Heute ist diese Vision für viele durchaus vorstellbar.
Spätestens seit der Hannover Messe 2016 ist auch dem letzten Automatisierungstechniker bewusst geworden, dass IT und Steuerungstechnik unumkehrbar zusammen wachsen. Firmen wie Microsoft und SAP proben den Schulterschluss mit Steuerungslieferanten wie Beckhoff und Siemens. Bosch Rexroth und Phoenix Contact realisieren eigene Cloudlösungen, um die vertikale Vernetzung von der Klemme bis zur Cloud Realität werden zu lassen. Auch klassische Maschinenbauer wie die Firma Trumpf gründen Startups wie Axoom, um an den Geschäften mit Produktionsdaten teilhaben zu können. Offen bleibt dabei die Frage, was dies für die Steuerungstechnik an sich bedeutet. Folgt auf die Anbindung der Steuerungstechnik an IT-Systeme eine Integration in diese? Werden in absehbarer Zukunft SPS, Motion und CNC nur einzelne Anwendungen unter vielen sein, die nach Bedarf auf Cloudplattformen instanziiert, ausgeführt und nach Abarbeitung des Auftrags wieder gelöscht werden? Lösungen, ausgestattet mit einem Echtzeitbetriebssystem für Cloudsysteme, einer deterministischen Kommunikationsanbindung über IP-Netzwerke sowie entsprechender I/O und Antriebstechnik, zeichnen sich ab. Wird also Steuerungstechnik aus der Cloud zur Realität?
Steuerungstechnik aus der Cloud: Heutige Grenzen
Ende 2013 startete das als technisch sehr ambitioniert eingeschätzte BMBF-Projekt 'Industrielle Cloudbasierte Steuerungsplattform für eine Produktion mit Cyber-physischen Systemen' - kurz Picasso - um die Grenzen von Steuerungstechnik aus der Cloud auszuloten. Noch 2012 ist die Idee von 'Steuerungstechnik aus der Cloud' von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als "angesichts der absehbaren Entwicklung der IT-Technik zwar von grundlegender Relevanz" ,aber "für einen Einsatz im Werkzeugmaschinenbau ungeeignet" bewertet worden. Heute können sich die meisten Zuhörer bei Vorträgen zu 'Steuerungstechnik aus der Cloud' eine echtzeitfähige Cloudlösung vorstellen. Auch die Loslösung der Steuerungstechnik aus den Industrie-PCs und die Portierung in eine Cloud scheinen technisch realisierbar, beziehungsweise sind zum Beispiel im Falle von Soft-SPSen schon umgesetzt. Die größten Bedenken existieren jedoch im Bereich der Kommunikation. Hierbei erscheint die Realisierung einer deterministischen, echtzeitfähigen Anbindung zwischen Cloud und Anlage als größter Showstopper. Bei der Kommunikation zwischen Cloud und Anlage sind zwei Größen von entscheidender Bedeutung: Zum einen die Lichtgeschwindigkeit, die zusammen mit der Applikation, eine natürliche Grenze definiert. Benötigt die Applikation zum Beispiel eine Zykluszeit von einer Millisekunde, dann kann eine Steuerungsanwendung, die eine Anlage in Stuttgart steuert, höchstens 150 Kilometer weit entfernt, zum Beispiel in Frankfurt, auf einem Server ausgeführt werden. Die zweite entscheidende Größe ist die Stabilität und Performance des Kommunikationsnetzes. Zur Bewertung des Kommunikationsnetzes wurden unterschiedliche Messungen durchgeführt. Die Messungen der Round Trip Time (RTT) zwischen einem Google Rechenzentrum in Nordeuropa und einer Gegenstelle in Stuttgart ist beispielsweise in der Abbildung auf der rechten Seite dargestellt. Zu erkennen ist die untere Grenze bei zirka 20 Millisekunden. Hier begrenzen die eingesetzte Netzwerktechnik entlang der Übertragungsstrecke und die Lichtgeschwindigkeit eine schnellere Kommunikation der Daten. Die obere Grenze liegt bei etwa 105 Millisekunden, wobei nur vereinzelt die Übertragung der Daten länger benötigt. Speziell diese Ausreißer stellen allerdings die Automatisierungstechnik vor ein Problem, denn sie können zur Beschädigung von Werkstücken oder gar zur Zerstörung der gesamten Anlage führen und müssen vermieden beziehungsweise abgefangen werden - eine deterministische Übertragung ist notwendig.
Lösungsansätze für die Kommunikation
Mit der Standardisierung von 'Time Sensitive Networking' (TSN) nach IEEE802.1 wird gerade ein entscheidender Grundstein gelegt, um Kommunikationsnetze in Zukunft echtzeitfähig und damit deterministisch zu realisieren. Die Erweiterung von Ethernet um für die industrielle Kommunikation wichtigen Eigenschaften wie Latenz, Jitter und Determinismus bilden eine Grundlage, um eine stabile Übertragung zu garantieren. Weitere Aktivitäten im Bereich der Standardisierung von OSI Layer 3 zu 'Deterministic Networking' (Detnet) können darauf aufsetzen und eine deterministische Kommunikation auch über IP-Netze ermöglichen. Die in Detnet angestrebten Zykluszeiten von 100 Mikrosekunden bis 50 Millisekunden, die Zeitsynchronisation von 1 Mikrosekunde und die hohe Verfügbarkeit von 99.999 Prozent werden den Determinismus und die Echtzeitfähigkeit schaffen, die Steuerungstechnik aus der Cloud benötigt. Zykluszeiten von 42,91 Millisekunden für cloudbasierte Steuerungstechnik, wie in der Abbildung oben dargestellt, reichen heute nicht aus, um Automatisierungsaufgaben zu lösen. Zwar existieren schon heute Anlagen, wie zum Beispiel teilautomatisierte Handarbeitsplätze, denen eine Reaktionszeit von 100 Millisekunden genügen, die Zielgröße für einen breiten Einsatz ist aber vermutlich eine Zykluszeit von einer Millisekunde. Erst wenn diese Zykluszeit durch cloudbasierte Steuerungstechnik realisiert werden kann, ist ein Betrieb des Großteils der Anlagen damit möglich. Um Anwendungen mit einer Zykluszeit von einer Millisekunde zu realisieren, muss die Cloud näher an die Anlage heran reichen. Sogenannte Edge- oder auch Fog-Clouds, wie in der Abbildung auf der linken Seite skizziert, ermöglichen dies. Edge- oder Fog-Clouds sind Bestandteile der Cloud, befinden sich aber in unmittelbarer Nähe zur Anlage. Sie können innerhalb des Produktionsnetzes angesiedelt sein und weisen dafür nur eine begrenzte Menge an Hardwareressourcen auf, wodurch die Elastizität beschränkt wird. Steuerungsanwendungen mit hohen Anforderungen an die Kommunikation zur Anlage wie die SPS und der Interpolator einer CNC-Steuerung können in Zukunft in Edge- oder Fogclouds instanziiert werden. Steuerungsanwendungen, die keine hohen Ansprüche an die Geschwindigkeit der Anbindung stellen, wie das Human-Machine-Interface (HMI) oder auch Teile der CNC wie Decoder, Bahnvorbereitung und Geometriekorrektur können auf einer herkömmlichen Cloundinstanz ausgeführt werden. Durch dieses Vorgehen sind Zykluszeiten für Steuerungsanwendungen von unter einer Millisekunde realisierbar. Aktuelle Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter: Anstatt nur eine Fog-Cloud zu nutzen, die wie ein Nebel die Anlage umschließt, sollen Mikrocomputer und Mikrocontrollern, die sich auf Antriebsverstärkern und anderen maschineninternen Geräten befinden, als Hardware für die Erweiterung der Cloud genutzt werden. Die Cloud dringt hierdurch - vergleichbar mit Sprühregen - in die Anlage ein. Aus diesem Grund wird diese Erweiterung der Cloud in die Anlage auch als 'Mist-Cloud' (deutsch: Sprühregen-Cloud) bezeichnet.
Zusammenfassung und Ausblick
Während Cloudbetriebssysteme sich immer weiter den Maschinen und Anlagen nähern und diese auf absehbare Zeit auch durchdringen werden, lässt sich in der Steuerungstechnik eine Loslösung von dedizierten Hardwareressourcen beobachten. Soft-Master, Soft-SPS und Soft-NCs sind auf dem Vormarsch. Werden beide Trends miteinander kombiniert und aktuelle Entwicklungen im Bereich der Kommunikationstechnik wie TSN und Detnet mit einbezogen, existieren die notwendigen Grundlagen für Steuerungstechnik aus der Cloud. Hierbei sind Zykluszeiten von einer Millisekunde realisierbar. Die größte Herausforderung besteht darin, Experten aus den drei Domänen zusammen zu bringen und die notwendige Technologie und Produkte für 'Steuerungstechnik aus der Cloud' zu entwickeln. Denn eines kann man sicher heute schon sagen: Technologisch hoch anspruchsvoll ist Steuerungstechnik aus der Cloud auf jeden Fall. Vermutlich wird die Geschwindigkeit, mit der die Vision Realität wird, einige etablierte Steuerungsanbieter überraschen und gegebenenfalls auch zu einer Konsolidierung des Marktes führen. n in der Forschungskoordination des Instituts für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW), Universität Stuttgart.
Wird Steuerungstechnik aus der Cloud zur Realität? 2012 war die Idee hierzu von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen Einsatz im Werkzeugmaschinenbau als "ungeeignet" erachtet worden. Heute ist diese Vision für viele durchaus vorstellbar.
Spätestens seit der Hannover Messe 2016 ist auch dem letzten Automatisierungstechniker bewusst geworden, dass IT und Steuerungstechnik unumkehrbar zusammen wachsen. Firmen wie Microsoft und SAP proben den Schulterschluss mit Steuerungslieferanten wie Beckhoff und Siemens. Bosch Rexroth und Phoenix Contact realisieren eigene Cloudlösungen, um die vertikale Vernetzung von der Klemme bis zur Cloud Realität werden zu lassen. Auch klassische Maschinenbauer wie die Firma Trumpf gründen Startups wie Axoom, um an den Geschäften mit Produktionsdaten teilhaben zu können. Offen bleibt dabei die Frage, was dies für die Steuerungstechnik an sich bedeutet. Folgt auf die Anbindung der Steuerungstechnik an IT-Systeme eine Integration in diese? Werden in absehbarer Zukunft SPS, Motion und CNC nur einzelne Anwendungen unter vielen sein, die nach Bedarf auf Cloudplattformen instanziiert, ausgeführt und nach Abarbeitung des Auftrags wieder gelöscht werden? Lösungen, ausgestattet mit einem Echtzeitbetriebssystem für Cloudsysteme, einer deterministischen Kommunikationsanbindung über IP-Netzwerke sowie entsprechender I/O und Antriebstechnik, zeichnen sich ab. Wird also Steuerungstechnik aus der Cloud zur Realität?
ISW Universität Stuttgart
Dieser Artikel erschien in IT&PRODUCTION Juli+August 2016 - 15.07.16.Für weitere Artikel besuchen Sie www.it-production.com