Interview mit Martin Rostan, Ethercat Technology Group (ETG)
"Zu schnell ist nie ein Problem"
Ethercat kann als industrielle Kommunikationslösung auf eine große Anbieter- und Anwenderschaft verweisen. Dabei hat sich das Industrial-Ethernet-Protokoll über den Tellerrand der klassischen Fertigungsautomatisierung hinaus entwickelt und findet auch in Regionen Akzeptanz, in denen Standards aus Europa normalerweise wenig Chancen haben. Martin Rostan, Geschäftsführer der Nutzerorganisation ETG, schildert im Gespräch mit dem SPS-MAGAZIN, was sich in der Ethercat-Welt aktuell alles tut.
Wie ist der aktuelle Mitgliederstand in der Ethercat Technology Group, Herr Rostan?
Martin Rostan: Die Zahl der Ethercat-Nutzer weltweit wächst und das Wachstum nimmt immer weiter an Fahrt auf: Im Jahr 2008 gab es durchschnittlich ein neues ETG-Mitglied pro Arbeitstag, 2012 war es schon ein Mitglied pro Kalendertag und im vergangenen Jahr traten insgesamt 600 neue Firmen der Ethercat-Organisation bei.
Das entspricht also rund zwei pro Arbeitstag...
Rostan: Richtig, und das macht die ETG eindeutig zur Feldbusorganisation mit den meisten Mitgliedsfirmen: Allein in Europa sind es über 2.000 Unternehmen, rund 650 in den USA und auch in Japan bereits 500. Letztere Zahl ist umso eindrucksvoller, als dass europäisch geprägte Technologien und Standards im japanische Markt in der Regel keine Chance haben. Diese Besonderheit belegt wunderbar, dass Ethercat tatsächlich weltweit akzeptiert ist, nicht nur im europäischen Heimatmarkt.
In der Vergangenheit wurde der japanische Markt von Kommunikationsstandards der großen heimischen Industrieausrüster dominiert.
Rostan: Ja eindeutig. Es gab eigentlich nur die Haus-Protokolle der japanischen Automatisierer. Doch mit Blick nach vorne, gewinnen herstellerübergreifende Schnittstellen und Standards auch in Japan an Bedeutung. Sich bei dieser Entwicklung auf die Technologie eines langjährigen Wettbewerbers einzulassen, wäre aber ein Gesichtsverlust und ist daher quasi unmöglich. Da funktioniert es deutlich besser, auf den Standard eines neutralen Dritten zu setzen. In diese Rolle ist Ethercat in Japan geschlüpft und verbucht durch die Kombination solch strategischer Vorteile und der technologischen Eigenschaften großen Erfolg. Übrigens auch auf ganz Asien bezogen: Mit fast 1.700 Mitgliedern ist die ETG auch hier die größte Nutzergemeinschaft.
Aber es zählt nicht allein die Mitgliederzahl.
Rostan: Natürlich nicht. Sie zeugt zwar von Akzeptanz und Interesse. Ausschlaggebend ist vor allem die Verbreitung der Technologie und die Anbietervielfalt auf Komponentenseite: Bei Ethercat sind es über 2.000 eingetragene Hersteller. Quer durch alle Branchen und immer mehr auch in der Automobil- und Zulieferindustrie.
Lässt sich daraus auf die Ablöse anderer Standards in diesem Bereich schließen?
Rostan: Es lässt sich zumindest ableiten, dass Ethercat für neue Projekte und Maschinen immer öfter das Mittel der Wahl ist. Doch industrielle Protokolle verschwinden nicht von heute auf morgen. Speziell in der Automobilindustrie nicht, die stark von den marktführenden Konzernen geprägt ist. Umso wertvoller in dieser Branche sind offizielle Commitments für Ethercat - so wie das von Toyota.
Toyota gilt ja als Vorreiter für Produktionstechnik. Macht sich das bemerkbar?
Rostan: Durchaus, interessanterweise auch über die Branche hinaus. Denn viele Unternehmen, die in anderen Industriebereichen die Technologieführerschaft für sich beanspruchen, orientieren sich an Toyota. Dazu kommen dann auch noch viele Beispiele, bei denen Ethercat ganz klar über den klassischen Automatisierungsfokus hinausgewachsen ist, z. B. in der Bühnentechnik, in der Energieerzeugung und -verteilung, in wissenschaftlichen Anwendungen oder bei den Segeljachten des America's Cup. Selbst auf der internationalen Raumstation ISS ist Ethercat bereits vertreten.
Sprechen bei diesem Spektrum immer die gleichen Gründe für Ethercat?
Rostan: Die Entscheidungskriterien sind vielfältig, aber meist ähnlich: Zu nennen ist natürlich die außergewöhnliche Geschwindigkeit von Ethercat, aber auch Gründe wie Einfachheit in der Handhabung, Topologievielfalt, Preis/Leistungsverhältnis oder Durchgängigkeit zählen dazu. Für welchen Teil der Ethercat-Anwendungen wirklich die Performance entscheidend ist, lässt sich nicht exakt quantifizieren. Aber die Leute haben verstanden: Zu schnell ist im Zweifel nie ein Problem.
Gibt es - initiiert durch Industrie 4.0 - neue Anforderungen, denen sich Ethercat stellen muss?
Rostan: Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass der Datenhunger grundsätzlich zunimmt. Dafür ist Ethercat durch seinen Fokus auf die Maschinenebene aber bereits sehr gut aufgestellt. Denn es ist mit unserer Lösung schon immer möglich, von oben herab Daten abzugreifen oder bereitzustellen. So wird die SPS bei der künftigen Datenverdichtung auf dem Steuerungslevel nicht groß behelligt und wir mussten auch nichts verändern, um Ethercat fit für das IoT und die Cloud zu machen.
Ist der Trend hin zu IoT und Big Data in der industriellen Praxis bereits wirklich spürbar?
Rostan: Diese Entwicklung startet sicherlich verhaltener als man sich das ursprünglich gedacht hat, aber sie startet. Und so geht es in immer mehr Projekten darum, Daten einzusammeln, die bislang nicht eingesammelt wurden. Was dann genau mit diesen Daten passiert, sehen wir nicht, aber es gibt einen ganz klaren Trend bei den Endanwendern, der über die klassische Maschinendatenerfassung hinaus geht.
Ein weiterer Trend des Marktes liegt in der Reduzierung der Verdrahtung durch den Einsatz von Hybridkabeln. Hierfür wurde vor rund einem Jahr Ethercat P vorgestellt. Was hat sich seitdem getan?
Rostan: Wir haben Ethercat P in erfreulich kurzer Zeit von einer Technologievorstellung zur Technologiespezifikation gebracht. Parallel dazu wurde auch die Infrastruktur unseres Testcenters entsprechend ausgelegt. Durch die Veröffentlichen einer Guideline, haben wir es unseren Mitgliedern zudem einfach gemacht die Anschaltung zu implementieren. In der Konsequenz gibt es bereits rege Nachfrage und wir bekommen Geräte zum Test. Aber wie mit jeder neuen Technologie müssen sich Nachfrage und Angebot erst einmal gegenseitig hochziehen.
Quer durch die Branche werden gerade neue Möglichkeiten diskutiert, die Ethernet TSN zukünftig bringen soll. Wie positioniert sich die ETG an dieser Stelle?
Rostan: Beim Thema Time-Sensitive Networking wird noch mit viel Halbwissen operiert. Demzufolge sind verschiedene Mythen im Umlauf: im Hinblick auf die Performance, in Bezug auf den Reifegrad, aber auch dazu, was TSN überhaupt ist. TSN ist ein Bündel von Standards, die Ethernet u.a. deterministischer machen werden. Dabei darf man aber nicht vergessen: Determinismus alleine bedeutet noch keine Echtzeit. Hierzu gehört auch noch die Performance, für die TSN kaum Verbesserung mitbringt. Ein ineffizientes Protokoll bleibt auch mit TSN ineffizient, und wird dabei noch deutlich komplexer. Prinzipiell ist der Trend hin zu TSN aber kein falscher, genauso wenig wie der zu OPC UA. Beide Technologien lassen sich gut im Ethercat-Umfeld einsetzen.
Das heißt, Sie sehen TSN nicht als Konkurrenz für Ethercat, sondern vielmehr als Ergänzung?
Rostan: Richtig. Der Arbeitskreis der IEEE hat ja weder den Anspruch noch das Ziel, TSN zu einem Feldbus zu machen. Vielmehr ist TSN ein spannender Werkzeugkasten, aus dem man sich bedienen kann, aber ohne dass die IEEE eine Bedienungsanleitung beilegt. Für Ethercat erarbeiten wir diese gerade. Mit TSN erweitern wir den Einsatzbereich von Ethercat in heterogenen Netzwerkumgebungen. So werden wir TSN beispielsweise nutzen, um die Eigenschaften der Kommunikation zwischen Ethercat Systemen über klassisches Ethernet zu verbessern.
Müssen Sie Ethercat denn noch verändern, um Mechanismen von TSN nutzen zu können?
Rostan: Nein. Unsere Kern-Technologie wird nicht verändert. Die Stabilität ist ja auch eine der zentralen Eigenschaften von Ethercat. Es sind natürlich einige neue Features über die Jahre hinzugekommen - das Protokoll an sich wurde aber nie verändert. Bei Ethercat können Sie also immer problemlos neue Geräte mit neuer Firmware in bestehende Anlagen einsetzen. An dieser Philosophie ändert auch TSN nichts: Es wird nicht dazu kommen, dass die vielen Tausend am Markt befindlichen Ethercat-Geräte angefasst und verändert werden müssen. (mby)
Ethercat kann als industrielle Kommunikationslösung auf eine große Anbieter- und Anwenderschaft verweisen. Dabei hat sich das Industrial-Ethernet-Protokoll über den Tellerrand der klassischen Fertigungsautomatisierung hinaus entwickelt und findet auch in Regionen Akzeptanz, in denen Standards aus Europa normalerweise wenig Chancen haben. Martin Rostan, Geschäftsführer der Nutzerorganisation ETG, schildert im Gespräch mit dem SPS-MAGAZIN, was sich in der Ethercat-Welt aktuell alles tut.
Wie ist der aktuelle Mitgliederstand in der Ethercat Technology Group, Herr Rostan?
Martin Rostan: Die Zahl der Ethercat-Nutzer weltweit wächst und das Wachstum nimmt immer weiter an Fahrt auf: Im Jahr 2008 gab es durchschnittlich ein neues ETG-Mitglied pro Arbeitstag, 2012 war es schon ein Mitglied pro Kalendertag und im vergangenen Jahr traten insgesamt 600 neue Firmen der Ethercat-Organisation bei.
Das entspricht also rund zwei pro Arbeitstag...
Rostan: Richtig, und das macht die ETG eindeutig zur Feldbusorganisation mit den meisten Mitgliedsfirmen: Allein in Europa sind es über 2.000 Unternehmen, rund 650 in den USA und auch in Japan bereits 500. Letztere Zahl ist umso eindrucksvoller, als dass europäisch geprägte Technologien und Standards im japanische Markt in der Regel keine Chance haben. Diese Besonderheit belegt wunderbar, dass Ethercat tatsächlich weltweit akzeptiert ist, nicht nur im europäischen Heimatmarkt.
EtherCAT Technology Group
Dieser Artikel erschien in SPS-MAGAZIN 11 2017 - 30.10.17.Für weitere Artikel besuchen Sie www.sps-magazin.de