Die Marke Simatic wird 60 - Interview mit Ralf-Michael Franke, Siemens
"Mit Abstand die Nummer 1"
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Automatisierungstechnik immer leistungsstärker, schneller und funktionaler geworden. So auch die Komponenten der Siemens-Marke Simatic, die in diesem Jahr 60 Jahre alt wird. Aktuell öffnet sich aber, bedingt durch Digitalisierung und dem industriellen IoT, das Tor zu einer ganz neuen Fertigungswelt. Welche Rolle die klassische Hardware in diesen Zeiten noch spielt, darüber hat das SPS-MAGAZIN mit Ralf-Michael Franke gesprochen, dem Chef der Siemens-BU Fertigungsautomatisierung.
Herr Franke, steht die Fabrikautomation heute wirklich vor einem Paradigmenwechsel?
Ralf-Michael Franke: Bei der klassischen Automatisierungstechnik befinden wir uns in der Tat auf dem asymptotischen Ast einer S-Kurve, die uns aber - davon bin ich überzeugt - noch weit in die nächsten Jahre hineintragen wird. Parallel entwickelt sich sehr schnell eine weitere, von IoT-Technologien geprägte Automatisierungskurve. Weil der Markt kundenseitig heute noch sehr differenziert ist, lautet die spannende Frage: Wie hält man sein Angebot für den Mainstream attraktiv, der sich noch auf der ersten Kurve befindet? Und wie unterstützt man gleichzeitig die Early Adopter, die zum Sprung auf die zweite Kurve ansetzen oder teilweise schon gesprungen sind?
Lässt sich die Bereitschaft für den technologischen Wandel auf Branchen oder Marktsegmente herunterbrechen?
Franke: Nein, sie hängt doch stark von den Menschen ab - gerade wenn man den Mittelstand in Deutschland betrachtet. Ist der Geschäftsführer affin zur Digitalisierung? Hat er eine Vision und eine Vorstellung von seinem Weg in das IoT? Ist das nicht der Fall, bleibt die Bereitschaft zur Veränderung meist aus.
Aber haben die Maschinenbauer angesichts der momentanen Auftragslage denn überhaupt Zeit, sich damit zu beschäftigen?
Franke: Sie müssen einen Spagat bewältigen und sich - auch wenn das Geschäft brummt - auf die zweite Kurve vorbereiten. Zumindest über einen überschaubaren Zeithorizont von ein paar Jahren.
Simatic wird in diesem Jahr 60. Ein stolzes Alter in der Automatisierungstechnik für eine Marke, wenn gleich sie sich europaweit zum Platzhirsch und auch weltweit zu einer führenden Marke entwickelt hat.
Franke: Nicht zu einer, sondern zu der führenden Marke: Simatic ist weltweit mit Abstand die Nummer 1 in der Automatisierung und wir sind dabei, diesen Vorsprung sogar weiter auszubauen. Wichtig für den Erfolg war u.a., dass wir sehr früh in den chinesischen Markt eingestiegen sind und den dortigen Markterwartungen gerecht geworden sind - mit einer hochqualitativen Steuerung, die wir in China für China entwickelt und gebaut haben.
Das klingt so, als nehme Simatic auch in Zeiten der Digitalisierung weiter an Fahrt auf.
Franke: Durchaus. Allein der Launch des TIA Portals vor rund zehn Jahren als integrierte und übergreifende Engineering-Lösung hat nochmal zu einer starken Beschleunigung geführt. Dessen Kombination mit unseren heutigen Softwareumgebungen wie Teamcenter, NX oder Mindsphere ermöglicht nun eine nie dagewesene Produktivität in Engineering und Automatisierung - daraus ergibt sich schon ein großer Differenziator, der sich durch künftige Technologien wie Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen noch weiter vergrößern soll.
Wenn Engineering-Systeme und Softwareumgebungen deutlich wichtiger werden, bedeutet das dann im Umkehrschluss, dass die Rolle der klassischen Automatisierungshardware künftig zu vernachlässigen ist?
Franke: Nein. Es muss ja nach wie vor in den Anlagen und Fabriken einiges physisch bewegt werden. Gleichzeitig wird es immer mehr Sensorik in den Anlagen geben, deren Daten erfasst, verarbeitet und visualisiert werden müssen. Zudem wird sich der Trend hin zu maßgeschneiderten Lösungen auch auf der Geräteseite widerspiegeln. Kurzum: Es gibt so einige Aspekte, warum ich mir um das Simatic-Geschäft keine Sorgen mache.
Aber dennoch wird sich die Feldebene stark verändern, oder?
Franke: Sicherlich. Die Hardware wird völlig anderen Anforderungen gerecht werden müssen und in Sachen Rechenleistung die aktuelle Simatic-Generation um Faktoren überschreiten. Auch die klassische Verbindung von Hardware und Software über eine Runtime-Lizenz wird es so nicht mehr geben. Letztendlich wird man auf Anhieb gar nicht mehr sagen können, wo eine Bewegungs- oder Sicherheitsfunktion tatsächlich ablaufen wird.
Welche Rolle wird Simatic dann übernehmen? Die des Vermittlers?
Franke: Genau, die gesamte Architektur braucht ja ein Backend, man benötigt regelmäßige Updates und muss Algorithmen permanent teachen. Das wird vielleicht aus der Cloud initiiert - aber letztendlich auf die Steuerungen im Feld heruntergeladen. Und die stellen dann den Kontakt zu allen entsprechenden Devices her. Das notwendige Maß an Konnektivität für solche Szenarien und den tatsächlichen Paradigmenwechsel müssen flächendeckend aber erst noch erfolgen. Deswegen bin ich überzeugt, dass wir noch sehr lange die Asymptote der Mainstream-Technologie pflegen werden.
Neben der genannten Entkopplung von Hardware und Software fordert Industrie 4.0 offene Strukturen. Liegt darin dann nicht die Gefahr, dass Hardware komplett austauschbar wird, weil alle Fabrikate das Gleiche können?
Franke: Dieser Frage darf man sich nicht verschließen. Wenn es einmal vollkommen aufgelöste Strukturen gibt, dann wird die Wertigkeit der Hardware eine andere Bedeutung einnehmen, als heute. Es ist also wichtig, nicht krampfhaft an bestehenden Geschäftsmodellen festzuhalten. In Anlehnung an heutige Softwarelizenzen könnte dann z.B. auch die Runtime einer Simatic ein Service sein, den der Kunde monatlich bucht und abhängig von der Performance bezahlt.
Aber welche Alleinstellungsmerkmale kann die Hardware dann noch bieten?
Franke: Schauen Sie sich z.B. die Business-Modelle von Apple oder Tesla an: Wenn man ein Ökosystem intelligent aufbaut, dann ist der Kunde durchaus bereit viel Geld für die Hardware auszugeben. Die jeweiligen Treiber, um die Hardware hochwertig und einzigartig zu machen, muss man aber natürlich rechtzeitig identifizieren und in seine Geschäftsstruktur integrieren.
Als Anbieter von Software- und IoT-Umgebungen will Siemens künftig auf offene Standards setzen. Bei Profibus und Profinet war das noch anders. Was verändert sich hier in Ihrer Denke?
Franke: Unsere Motivation liegt damals wie heute im Kundennutzen. Die Zeit, in der wir diesen gerade über geschlossene Systeme bringen konnten, ist vorbei. Offenen Standards eröffnen heute einfach mehr Möglichkeiten. Und auch die nötige Innovationsgeschwindigkeit lässt sich nicht mehr halten, ohne auf offene Standards und Technologien zu setzen. Somit ist Offenheit einfach zur Voraussetzung geworden. Im ersten Schritt mag das vielleicht ein Stück weit zu Lasten der Kundenbindung gehen, aber wie gesagt: Man muss eben Wege finden, wie man die Offenheit in Kundennutzen und Begeisterung umwandelt.
Das heißt offene Standards wie Ethernet TSN und OPC UA stehen aus Ihrer Sicht gar nicht zur Diskussion?
Franke: Die Marktdurchdringung mit all diesen Standards wird man in der Branche nicht lange diskutieren und Glaubenskriege wie bei den Feldbussen wird es nicht mehr geben. Dennoch muss man die klassischen Kommunikationsstandards und deren installierte Basis von Millionen Knoten auch weiterhin bedienen.
Es wird mehr ein Miteinander der neuen und alten Standards als ein entweder oder?
Franke: Sicherlich gibt es auch Greenfield-Fabriken, in denen man die neuen Technologien durchgängig ausprobieren bzw. implementieren kann. Aber die Mehrheit der Automatisierungsanwendungen wird auch in Zukunft der Brownfield-Bereich ausmachen. Das bedeutet: Man muss Industrie 4.0 in bestehende Strukturen einbringen und kann nicht komplett disruptiv unterwegs sein.
Eine unmittelbare Technologie-Ablöse und den sprichwörtlichen Nokia-Effekt gibt es in der Automatisierung also nicht?
Franke: Bei Siemens sicherlich nicht. Denn wir treiben die Innovationen und sind hinsichtlich moderner Automatisierungsarchitekturen bestens aufgestellt: mit der Mindsphere-Cloud, mit leistungsstarker Software für Produkt- und Produktionsdesign aber eben auch mit dem komplett durchgängigen Hardwarespektrum der Simatic-1200er- und -1500er-Steuerungen. Wir haben uns lange auf den Wandel vorbereitet und alle nötigen Technologien im Programm - auf Hardware- wie auf Softwareseite.
Und wie steht es hier um Ihre Marktbegleiter? Sind die Ihrer Ansicht nach auch fit für die Zukunft?
Franke: Man sieht es auf den entsprechenden Messen: Industrie 4.0 und die Digitalisierung finden dort an jedem Stand statt. Alle Automatisierer versuchen sich bestmöglich einzubringen, teilweise ebenfalls mit sehr guten Ideen. Darüber bin ich persönlich auch froh, denn starke Marktbegleiter halten einen wach.
Das ehemalige Buzzword Industrie 4.0 hat sich mittlerweile mit konkreten Möglichkeiten für Mehrwert gefüllt, möchte man meinen.
Franke: So ist es, doch die nächsten Buzzwords stehen mit Egde und KI schon in den Startlöchern. Hier stehen wieder ganz am Anfang des Innovationspotenzials, aber auch sie werden die Fabrikhallen der Zukunft massiv beeinflussen. Eine Herausforderung dabei ist: Der Markt für echte Spezialisten ist ausgesprochen dünn - weil es eben ganz neue Technologien sind - dafür aber umso härter umkämpft. Nicht nur von der Industrie. Und damit die Fachleute zu uns kommen, und nicht in die IT, müssen die Anbieter von Automatisierung die Attraktivität Ihrer Branche besser vermarkten.
Die Industrie hat - im Vergleich mit IT-Unternehmen - als Arbeitgeber aber doch mit einem eher angestaubten Image zu kämpfen.
Franke: Das stimmt. Google hat als Arbeitgeber noch ein anderes Image als Siemens. Deswegen werden auch wir bei Siemens die Arbeitsumgebung so modern und agil gestalten, wie es von dieser Zielgruppe typischerweise erwartet wird. Und wenn sich die Zentren für Künstliche Intelligenz in den USA, in China oder in Israel etablieren, müssen wir im Zweifel dort hingehen, anstatt krampfhaft zu versuchen, die Spezialisten von dort nach Deutschland abzuziehen.
Ziehen Sie auch die Akquisition eines spezialisierten KI-Players in Betracht?
Franke: Natürlich, denn der rasant ansteigenden Innovationsgeschwindigkeit und daraus resultierenden Herausforderungen kann man nicht nur durch endogenes Lernen begegnen. Gegebenenfalls muss man Know-how zukaufen oder kooperieren. Gerade letzteres hat Siemens bisher verhältnismäßig wenig gemacht - Partnerschaften werden aber in Zukunft eine essenzielle Rolle spielen. Um die eingangs formulierte These wieder aufzugreifen: Die Zeiten ändern sich eben.
Lassen Sie uns abschließend noch über die Cloud sprechen. Welche klassischen Simatic-Funktionen können künftig über das Internet gelöst werden?
Franke: Rein technisch wird die überwiegende Mehrheit an Steuerungsanwendungen mittelfristig cloudfähig sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie in der Praxis dann auch so gelöst werden. Denn nur weil es möglich ist, ist es nicht unbedingt sinnvoll. Persönlich glaube ich, dass es viel stärker zu einer Anreicherung der dezentralen Intelligenz kommt, womit wir wieder beim Thema Edge sind. Es wird also mehr um die Frage gehen, wie man Rechenleistung und Künstliche Intelligenz vor Ort an die Maschine bringen kann. Und das bei viel loseren und flexibleren Strukturen in der Fabrik.
Ein Hemmschuh für die Cloud ist die Security. Was kann denn Simatic dazu beitragen, dass sich der Anwender sicherer fühlt?
Franke: Das Thema Security ist mit ausschlaggebend, warum die zwei anfangs genannten S-Kurven noch lange nebeneinander verlaufen. Denn für einen Anwender ist es ein sehr großer Schritt, sich dem Netz zu öffnen. Rückblickend haben wir bei Siemens Glück gehabt, dass uns das Thema Stuxnet ereilt hat. Denn das führte dazu, dass wir die komplette Architektur für das TIA Portal in Punkto Security nochmal neu aufgesetzt haben. Entsprechend ist Siemens heute der einzige Anbieter von Automatisierungstechnik, der Security-zertifiziert ist - sowohl was die Produkte angeht, als auch den Entwicklungsprozess betreffend. Dennoch wird es niemals absolute Sicherheit im Netz geben, und deswegen werden wir das Security-Level auch weiterhin mit hohem Aufwand treiben. Als einen zentralen Aspekt, dem sich Simatic mit seinen 60 Jahren auf dem Buckel stellen muss.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Automatisierungstechnik immer leistungsstärker, schneller und funktionaler geworden. So auch die Komponenten der Siemens-Marke Simatic, die in diesem Jahr 60 Jahre alt wird. Aktuell öffnet sich aber, bedingt durch Digitalisierung und dem industriellen IoT, das Tor zu einer ganz neuen Fertigungswelt. Welche Rolle die klassische Hardware in diesen Zeiten noch spielt, darüber hat das SPS-MAGAZIN mit Ralf-Michael Franke gesprochen, dem Chef der Siemens-BU Fertigungsautomatisierung.
Herr Franke, steht die Fabrikautomation heute wirklich vor einem Paradigmenwechsel?
Ralf-Michael Franke: Bei der klassischen Automatisierungstechnik befinden wir uns in der Tat auf dem asymptotischen Ast einer S-Kurve, die uns aber - davon bin ich überzeugt - noch weit in die nächsten Jahre hineintragen wird. Parallel entwickelt sich sehr schnell eine weitere, von IoT-Technologien geprägte Automatisierungskurve. Weil der Markt kundenseitig heute noch sehr differenziert ist, lautet die spannende Frage: Wie hält man sein Angebot für den Mainstream attraktiv, der sich noch auf der ersten Kurve befindet? Und wie unterstützt man gleichzeitig die Early Adopter, die zum Sprung auf die zweite Kurve ansetzen oder teilweise schon gesprungen sind?
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Dieser Artikel erschien in SPS-MAGAZIN 7 2018 - 16.07.18.Für weitere Artikel besuchen Sie www.sps-magazin.de