Simulation und virtuelle Inbetriebnahme
Der Materialfluss des digitalen Zwillings
Für die virtuelle Inbetriebnahme von Steuerungssystemen werden echtzeitfähige Hardware-in-the-Loop-Simulationen benötigt. Der Materialfluss als Bewegung von Stückgütern in einer Fabrikanlage ist hier ein rechenintensives Element. Bereits existierende Modellansätze unterscheiden sich bezüglich Rechenaufwand und Realitätsnähe. Ein neuer Ansatz ist schneller in der Berechnung: Er betrachtet den Materialfluss als Flussmodell auf makroskopischer Ebene. So bleibt die Rechenzeit unabhängig von der Anzahl der Stückgüter konstant und es werden realitätsnahe Simulationsergebnisse erreicht.
Bei einer Hardware-in-the-Loop-Simulation (HiL) werden echte Geräte in eine Simulation eingebunden. In der Steuerungstechnik werden solche Simulationen vor allem für die virtuelle Inbetriebnahme der Steuerung genutzt. In diesem Fall wird eine Maschine oder Anlage simuliert und das reale Steuerungssystem mit dem Steuerungscode per Feldbus angeschlossen. Auf diese Weise kann der Code entwickelt und validiert werden, ohne dass die echte Maschine benötigt wird und ohne dass sie beschädigt werden kann. Es wird außerdem das zeitliche Zusammenspiel zwischen Steuerungssystem, Feldbus und Maschine getestet. Die Simulation muss aber besondere Anforderungen erfüllen, damit das Steuerungssystem keinen Unterschied zwischen realer Maschine und Simulation feststellt: So sind alle Signale bereitzustellen, die sonst von der realen Maschine produziert werden - und diese Signale müssen zeitdeterministisch und in Zyklen bis 1ms generiert werden.
Materialflusssimulation für die virtuelle Inbetriebnahme
Beim Materialfluss muss im Rahmen der virtuellen Inbetriebnahme die Materialgröße berücksichtigt werden: Die Berechnungen im Rahmen der Simulation unterscheiden sich je nachdem, ob es um Flüssigkeiten, Schüttgut oder einzelne Stückgüter geht. Für Stückgüter existieren bereits mehrere Berechnungsmodelle:
- • Das ereignisbasierte Modell konzentriert sich auf die Reihenfolge der Abläufe.
- • Das kinematische Modell berücksichtigt die Geometrien der Objekte.
- • Das physikalische Modell bezieht zusätzlich Kräfte, Momente und Massen ein.
Da das physikalische Modell am exaktesten rechnet und am meisten Informationen berücksichtigt, ist auch die benötigte Berechnungsdauer am größten. Insbesondere die Berechnung von Kollisionen ist sehr aufwändig. Werden Anlagen mit vielen Gütern simuliert, so kann der Echtzeittakt nicht mehr eingehalten werden. Eine Anlage mit vielen Gütern kann aber anstatt auf mikroskopischer Ebene (einzelne Güter) auch auf makroskopischer Ebene (Gesamtheit der bewegten Güter) betrachtet werden. Bei letzterer wird der Materialfluss analog zu einem Fluid betrachtet, die genaue Position und Bewegung einzelner Güter wird nicht bestimmt. Der große Vorteil eines Flussmodells ist die von der Güteranzahl unabhängige Berechnungsdauer. Somit spielt es keine Rolle, wie viele Güter sich in einer Anlage befinden.
Güterbewegung als Flussmodell
Im Flussmodell, das am ISW der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für wissenschaftliches Rechnen der Universität Mannheim entwickelt wurde, werden die Güter als 2D-Dichteverteilung dargestellt - je mehr Güter in einem Bereich vorhanden sind, desto größer ist die Dichte. Da die Güter nicht verschwinden, sondern deren Anzahl konstant bleibt, muss auch die Summe der Dichteverteilung konstant bleiben. Die Umgebung wird als ein Geschwindigkeitsfeld beschrieben, wobei Förderbänder oder ähnliches ihre Geschwindigkeit vorgeben und Hindernisse durch eine abstoßende Geschwindigkeit dargestellt werden. Zu dieser statischen Geschwindigkeit kommt eine dynamische Geschwindigkeit dazu, die durch die Interaktion der Güter untereinander entsteht. Die Güter stauchen sich erst auf eine maximale Dichte an bevor eine Abstoßung stattfindet. Sowohl die Geschwindigkeitsfelder als auch die Dichteverteilung werden in einem Gitter betrachtet.
Flussmodell in der Echtzeit-HiL-Simulation
Die Berechnungsdauer ist unabhängig von der Anzahl der Güter, ist aber proportional zur Gittergröße. Je weniger Gitterfelder berechnet werden, desto ungenauer ist die Simulation - desto schneller kann sie jedoch werden. Um eine Berechnung im Steuerungstakt zu gewährleisten, muss möglicherweise eine grobe Diskretisierung gewählt werden. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Realitätsnähe der Ergebnisse. Ein zu grobes Gitter führt zu schlechteren Ergebnissen. Abhängig vom Anwendungsfall führt jedoch auch ein beliebig feines Gitter nicht zu optimalen Ergebnissen. Die richtige Balance zwischen Rechendauer und Realitätsnähe ist abhängig vom Anwendungsfall. Außer der Diskretisierung zur Verringerung der Rechendauer, kann die Berechnung auch parallelisiert werden. Für einzelne Zeitschritte können die Gitterfelder getrennt voneinander und daher auch parallel berechnet werden. Da es sich um eine Matrix handelt, bietet sich eine Parallelisierung auf dem Grafikprozessor an. Je nach Implementierung kann diese durch die Parallelisierung um das Hundertfache beschleunigt werden. Herausfordernd ist hierbei insbesondere die große Menge an Daten, die zwischen dem Hauptprozessor und dem Grafikprozessor übertragen werden müssen. Es ist möglich durch Lokalisierungsmethoden aus der Dichteverteilung die einzelnen Güterpositionen zu berechnen. Die Methoden können entweder zeit- oder ortsabhängig angewendet werden. Im ersten Fall werden alle Güterpositionen zu einem bestimmten Zeitpunkt berechnet. Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese Umrechnung in der Regel nicht innerhalb eines Taktes erfolgen kann. Für die zweite Variante wird nur ein Anteil der Dichteverteilung betrachtet, bestimmte Gitterfelder in der Umgebungsdarstellung. Aus dem prozentualen Anteil der Dichte innerhalb dieser Felder im Verhältnis zur Gesamtdichte, wird die Anzahl der Güter bestimmt und deren Position mithilfe der Lokalisierungsmethoden berechnet. Diese Variante ist besonders geeignet, wenn die Positionen in bestimmten Bereichen benötigt werden. Die zurückgerechneten Positionen stimmen jedoch weniger mit der Realität überein als wenn die gesamte Dichteverteilung umgerechnet wird. Um das Flussmodell für eine HiL-Simulation einzusetzen, werden diskrete Signale aus dem kontinuierlichen Fluss generiert, da die Steuerung nicht direkt mit der Dichteverteilung arbeiten kann. Es ist kontraproduktiv und aus Gründen der Berechnungsdauer nicht möglich, in jedem Takt die Position aller Güter aus der Dichteverteilung zu berechnen. Zweckmäßiger ist es, einzelne Bereiche umzurechnen, in denen die genaue Position der Güter relevant ist. Das kann z.B. an einer Vereinzelungsstelle oder einer Sortieranlage sein. Alternativ oder zusätzlich können andere Größen betrachtet werden. Der Ausfluss beschreibt die Menge an Gütern, die eine bestimmte Stelle in der Simulation passiert haben. Dies kann für die Zählung der Güter in bestimmten Bereichen genutzt werden. Der Wert kann über die Summe der Dichte in den entsprechenden Gitterfeldern berechnet werden.
Anwendung des Flussmodells
Die Anwendung des Flussmodells lohnt sich für die Betrachtung großer Mengen an Stückgütern mit gleicher Geometrie. Es sollte nicht notwendig sein, durchgehend auf die exakte Position der Stückgüter zuzugreifen. Im Gegenzug können Mengen simuliert werden, die nicht mehr mit physikbasierten Modellen berechnet werden können. Dabei spielt die genaue Anzahl der Stückgüter keine Rolle, nur der betrachtete Bereich. Das in diesem Artikel beschriebene Projekt ist DFG-gefördert (Projektnummer 327964174 OptiPlant) und eine Zusammenarbeit des ISW der Universität Stuttgart und des Lehrstuhls für wissenschaftliches Rechnen der Universität Mannheim.
Stuttgarter Innovationstage
Weitere Trends und Neuheiten in der Steuerungstechnik - nicht nur im Bereich der Simulationstechnik - werden im Rahmen der Stuttgarter Innovationstage 2020 am 3. und 4. März präsentiert. Neben neuen Technologien zeigen die Vorträge z.B. den Einsatz bestehender Methoden auf Basis des digitalen Zwillings im Maschinen- und Anlagenbau auf. Mit Vorträgen aus den Fachbereichen IT und klassischer Automatisierungstechnik, können Besucher der Veranstaltung nächste Schritte zum interdisziplinären Wissensaustausch machen.
Für die virtuelle Inbetriebnahme von Steuerungssystemen werden echtzeitfähige Hardware-in-the-Loop-Simulationen benötigt. Der Materialfluss als Bewegung von Stückgütern in einer Fabrikanlage ist hier ein rechenintensives Element. Bereits existierende Modellansätze unterscheiden sich bezüglich Rechenaufwand und Realitätsnähe. Ein neuer Ansatz ist schneller in der Berechnung: Er betrachtet den Materialfluss als Flussmodell auf makroskopischer Ebene. So bleibt die Rechenzeit unabhängig von der Anzahl der Stückgüter konstant und es werden realitätsnahe Simulationsergebnisse erreicht.
Bei einer Hardware-in-the-Loop-Simulation (HiL) werden echte Geräte in eine Simulation eingebunden. In der Steuerungstechnik werden solche Simulationen vor allem für die virtuelle Inbetriebnahme der Steuerung genutzt. In diesem Fall wird eine Maschine oder Anlage simuliert und das reale Steuerungssystem mit dem Steuerungscode per Feldbus angeschlossen. Auf diese Weise kann der Code entwickelt und validiert werden, ohne dass die echte Maschine benötigt wird und ohne dass sie beschädigt werden kann. Es wird außerdem das zeitliche Zusammenspiel zwischen Steuerungssystem, Feldbus und Maschine getestet. Die Simulation muss aber besondere Anforderungen erfüllen, damit das Steuerungssystem keinen Unterschied zwischen realer Maschine und Simulation feststellt: So sind alle Signale bereitzustellen, die sonst von der realen Maschine produziert werden - und diese Signale müssen zeitdeterministisch und in Zyklen bis 1ms generiert werden.
Universität Stuttgart
Dieser Artikel erschien in SPS-MAGAZIN 10 2019 - 01.10.19.Für weitere Artikel besuchen Sie www.sps-magazin.de