IEC61850 vereinfacht die Versorgungsinfrastruktur von Rechenzentren
Passender Standard
Die IEC61850 ist ein etablierter Kommunikationsstandard für die Stationsautomatisierung. Die hohe Zuverlässigkeit, integrierte Diagnose, hohe Selektivität, schnellere Reaktion im Fehlerfall und höhere Fehlertoleranz, die die IEC61850 verspricht, macht sie zum geeigneten Standard auch für die Stromversorgungsinfrastruktur von Rechenzentren.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Veröffentlichung der IEC61850 im Jahr 2004 die Welt der Schaltanlagenautomatisierung revolutioniert hat. Die IEC61850 - zu der ABB maßgeblich beigetragen hat - stellt ein standardisiertes Rahmenwerk für die Schaltanlagenintegration dar und beschreibt die Kommunikationsanforderungen, die funktionalen Eigenschaften, die Struktur der Daten in Geräten, die Benennungskonventionen für die Daten, die Art und Weise, wie Anwendungen interagieren und die Geräte steuern, sowie die Art und Weise, wie die Konformität mit der Norm geprüft werden sollte. Die Fähigkeiten der IEC61850 zur Integration von Schutz- und Überwachungsfunktionen in Nieder- und Mittelspannungsanlagen wurden schnell erkannt, und mittlerweile wird die Norm zunehmend für Anwendungen im Nieder-, Mittel- und Hochspannungsbereich eingesetzt. Zu den Geräten, die von einer Funktionalität gemäß IEC61850 profitieren, gehören Schutzrelais, Leistungsschalter, Kommunikations-Gateways, speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) und Scada-Architekturen (Supervisory Control and Data Aquisition).
IEC61850 und Rechenzentren
Die Welt erlebt zurzeit eine Datenexplosion. So wächst nicht nur die Datenmenge mit atemberaubender Geschwindigkeit, auch die Abhängigkeit der Gesellschaft von diesen Daten nimmt täglich zu. Dies führt dazu, dass Rechenzentren in vielen Ländern mittlerweile zur kritischen Infrastruktur gehören. Fällt ein Rechenzentrum aus, entsteht Chaos, weshalb eine zuverlässige Stromversorgung unverzichtbar ist. Im Allgemeinen verfügen Rechenzentren deshalb über wohldurchdachte Backup-Systeme wie unterbrechungsfreie Stromversorgungen (USV), Dieselgeneratoren usw. Durch die Automatisierung der Stromversorgungsinfrastruktur mithilfe IEC61850-fähiger Geräte und einer IEC61850-basierten Goose-Kommunikation (Generic Object-Oriented Substation Event) lassen sich erhebliche Verbesserungen, z. B. im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Stromversorgung, die Betriebssteuerung und Kostensenkungen, erzielen.
Goose-Nachrichten
Tritt in einer Stromversorgungskomponente ein Fehler auf, muss das Schutzgerät, das den Fehler erkannt hat, so schnell wie möglich entsprechende Fehlerinformationen an die Geräte übertragen, die entscheiden, welcher Leistungsschalter ausgelöst werden soll. Fände diese Übertragung in einem Rundlauf- oder anderen zyklischen Verfahren statt, bei dem das Gerät auf den Zugang zum Kommunikationsmedium warten muss, hätte dies inakzeptable Verzögerungen zur Folge. Die effektive Handhabung einer solchen nicht zeit- sondern ereignisbasierten Kommunikation ist eines der besonderen Merkmale der IEC61850. Umgesetzt wird sie mithilfe spezieller Datenpakete, die als Goose-Nachrichten bezeichnet werden. Bei Goose-Nachrichten ist das entscheidende technische Merkmal nicht die Zyklusdauer, sondern die Latenz, d.h. die Verzögerung zwischen einem Ereignis und der Übertragung relevanter Informationen im Netzwerk. Eine wesentliche Eigenschaft von Goose-Nachrichten ist, dass sie neben der üblichen vertikalen Kommunikation zwischen Gerät und Überwachungssystem auch für die horizontale Kommunikation (d.h. Peer-to-Peer) zwischen Geräten verwendet werden können. So kann eine logische Selektivität oder Verriegelung zwischen zwei Leistungsschaltern durch direkten Nachrichtenaustausch zwischen den betreffenden Geräten implementiert werden, ohne dass der Vorgang von einer zentralen Verarbeitungseinheit gesteuert werden muss. Eine horizontale Kommunikation verbessert sowohl die Leistungsfähigkeit (kürzere Gesamtreaktionszeit und effizientere Nutzung des Kommunikationskanals) als auch die Zuverlässigkeit (da ein Ausfall der Zentraleinheit das gesamte Schutzkonzept beeinträchtigen würde). Neben der Fehlersignalisierung können Goose-Nachrichten auch zur Implementierung eines integrierten Diagnosemechanismus im Versorgungsschutzsystem eines Rechenzentrums verwendet werden. Dabei kann jedes Gerät so konfiguriert werden, dass es regelmäßig (z.B. jede Sekunde) eine Ping-Nachricht an andere Geräte sendet, um mitzuteilen, dass sein Status normal ist. Bleiben diese Meldungen aus, können die jeweiligen Empfänger Alarmmeldungen senden, in einen vordefinierten sicheren Modus schalten oder andere Maßnahmen initiieren. Da die Diagnosemeldungen dasselbe Kommunikationsmedium nutzen wie andere Datenpakete, ist keine zusätzliche Hardware erforderlich.
Goose-basierter Sammelschienenschutz
Mit entsprechender IEC61850-Kommunikation können Rechenzenten auf ein eigenes Sammelschienen-Schutzrelais verzichten. Stattdessen werden die Relais der einzelnen Leistungsschalter, z. B. das Abzweigschutzrelais oder das Versagerschutzrelais verwendet. Ein 'Master'-Relais übernimmt dabei die Rolle des Sammelschienenschutzes, während ein anderes Relais als Reserve für den Master fungiert. Alle am IEC61850-basierten Sammelschienenschutz beteiligten Relais kommunizieren über Goose-Protokolle. IEC61850-kompatible Geräte wie die Relais der ABB Relion-Reihe und die Leistungsschalter vom Typ Emax 2 verfügen normalerweise über mehrere Ethernet-Ports mit PRP-Unterstützung (Parallel Redundancy Protocol). PRP ermöglicht Doppelstern-Netzwerktopologien mit selbstheilenden Ringen, die praktisch eine Kommunikationsverfügbarkeit von 100% erreichen. Die Doppelstern-Konfigurationen erzeugt bei zukünftigen Erweiterungen weniger Netzwerkstörungen, ermöglicht eine schnellere Fehlerbehebung, besitzt eine minimale Kommunikationslatenz und ist wartungsfreundlicher. Ein Versorgungsschutzkonzept für Rechenzentren auf der Basis der IEC61850 bietet noch weitere Vorteile: Da ein glasfaserbasiertes Ethernet-Netzwerk zum Einsatz kommt, kann die teure, platzintensive, komplizierte und fehleranfällige Punkt-zu-Punkt-Kupferverdrahtung, wie sie in traditionellen Rechenzentrumsanlagen zum Einsatz kommt, reduziert werden oder ganz entfallen. Diese Reduktion (bzw. Beseitigung) der Querverdrahtung zwischen Relais bringt wiederum erhebliche Einsparungen beim Engineering, bei der Installation (Arbeitsaufwand und Zeit) und beim Material mit sich. Allein die Reduktion der Kupferverdrahtung hat erhebliche positive finanzielle Auswirkungen und bietet Vorteile im Hinblick auf die Zuverlässigkeit und die Lebenszykluskosten. Bei neuen Anlagen reduzieren sich die Kosten, weil auf zusätzliche Schutzrelais verzichtet werden kann. Der IEC61850-Bus vereinfacht zudem zukünftige Veränderungen und Erweiterungen.
Automatischer Netzumschalter (ATS)
Ein weiteres Beispiel für eine mögliche IEC61850-Anwendung ist der automatische Netzumschalter (Automatic Transfer Switch, ATS). Da die Verfügbarkeit und Stabilität der Stromversorgung für den Rechenzentrumsbetrieb von entscheidender Bedeutung ist, wird eine solche Anlage typischerweise von zwei Netzstromquellen in einer sogenannten M-T-M-Konfiguration (Main-Tie-Main) gespeist. Der ATS stellt eine wirksame und zuverlässige Methode dar, um von einer Sammelschiene, deren Stromquelle ausgefallen ist, auf eine andere, störungsfreie Sammelschiene umzuschalten. Um schnell die verfügbare alternative Quelle zu identifizieren und die Lasten von der gestörten zur störungsfreien Sammelschiene umzuschalten, tauschen die beteiligten Relais Goose-Nachrichten mit verschiedenen Zustandsdaten wie dem Spannungsverlustereignis, Funktionszustand der alternativen Quelle, bevorstehende Auslösungen des Überstrom- oder Sammelschienenschutzes, Normalzustand der Haupt- und Kuppelleistungsschalter usw. aus. Eine solche Nutzung der IEC61850 bietet die folgenden Vorteile:
? Reduzierung des Material- und Arbeitsaufwands für die Verdrahtung
? Minimierung der Systemverlustdauer
? sicherer Betrieb mit minimierter Belastung der Reservegeneratoren und USVs
? vollständige Transparenz der Relaisdaten für Reporting-, Überwachungs- und Analysezwecke
Vereinfachung von Engineering und Konfiguration
Weitere Vorteile bietet die IEC61850 im Hinblick auf Engineering- und Konfigurationsprozesse. Aufgrund der hohen Komplexität und Anzahl der an einer typischen Stromversorgung für Rechenzentren beteiligten Geräte wäre die Konzeption eines Schutzsystems ohne einen strukturierten, computergestützten Prozess schwierig, da die ungeheure Menge an konfigurations- und betriebsbezogenen Details kritische Fehler begünstigt. Um dies zu vermeiden, setzt die IEC61850 auf die Standardisierung von Objekten und Datentypen sowie auf formelle elektronische Beschreibungen. Der Komplexität von IEDs (Intelligent Electronic Devices) begegnet die IEC61850, indem jedes Gerät als eine Reihe logischer Objekte beschrieben wird, die in die Endanwendung übertragen werden können. Dabei sind die Objekte so abstrakt, dass sie für verschiedene Arten von Geräten von unterschiedlichen Herstellern verwendet werden können, aber realistisch genug, um für den jeweiligen Engineering-Job anwendbar zu sein. Beispiele für solche Objekte sind Überstromschutz, Strom- und Spannungsmessung, Steuerung eines Schalters usw. Einen Eckpfeiler des IEC61850-Datenmodells bildet ein Katalog von standardisierten logischen Objekten mit klar definierten Bedeutungen sowie gültigen Parametern und Datenelementen. Alle IEC61850-konformen Geräte nutzen die gleichen Objekte zur Implementierung der gleichen Funktion, sodass in einer Rechenzentrumsanwendung Objekte auf gleiche Weise miteinander kombiniert werden können. Eine solche Standardisierung reicht bis zu den Objektnamen (z.B. steht PTOC immer für einen Überstromschutz), was Entwicklern die Erkennung und Verwendung erleichtert. Die Datentypen sind ebenfalls in der IEC61850 festgelegt, sodass z.B. das Ergebnis einer Messung zusammen mit dem dazugehörigen Namen, den Maßeinheiten, Qualitätsangaben usw. definiert ist, was die Wahrscheinlichkeit von Fehlern reduziert. Darüber hinaus definiert die IEC61850 ein einheitliches elektronisches Format zur Beschreibung von Geräten und Systemen. Alle Geräte - IEDs - werden jeweils in einer Datei beschrieben, die in SCL (Substation Configuration Description Language) verfasst ist und in der alle Eigenschaften und logischen Objekte des Geräts aufgeführt sind. SCL-Dateien können mit IEC61850-konformen Software-Engineering-Tools gelesen und bearbeitet werden, was für einen reibungslosen Prozess sorgt und Fehler verhindert. Eine solche formalisierte Beschreibungssprache hat außerdem den Vorteil, dass sie die Interoperabilität zwischen Geräten verschiedener Hersteller vereinfacht: Solange die zu implementierenden Objekte in der SCL-Datei beschrieben sind, braucht sich der Benutzer nicht um ihre innere Funktionsweise zu kümmern.
Geeignet für die Automatisierung der Versorgungsinfrastruktur
Die IEC61850 eignet sich sehr gut für die Automatisierung der Versorgungsinfrastruktur von Rechenzentren, wo sie die Grundlage für ein umfassendes elektrisches Designkonzept bilden kann, das das gesamte Schutz-, Steuerungs- und Überwachungssystem einschließlich der erforderlichen Cybersicherheit umfasst - und zwar mithilfe eines einzigen Protokolls. Die Verwendung von Glasfaser- statt Kupferkabeln trägt dabei zur Senkung der Verdrahtungskosten, Reduzierung des Platzbedarfs und Erhöhung der Sicherheit bei. Darüber hinaus ermöglicht die IEC61850 die Überwachung und Steuerung von IEDs aus der Ferne und sorgt dafür, dass Geräte von unterschiedlichen Herstellern ohne spezielle Gateways oder andere Engineering-intensive Komplikationen miteinander kommunizieren können. Darüber hinaus eröffnet die Digitalisierung des Stromversorgungssystems mithilfe der IEC61850 neue Möglichkeiten zur Anbindung an andere digitale Systeme des Rechenzentrums wie das Gebäudemanagementsystem (BMS), Stromversorgungsmanagementsystem (PMS), Infrastrukturmanagementsystem (DCIM) oder das ABB Ability Data Center Automation System. Dies sind wichtige Bausteine auf dem Weg zum großen Ziel - der Verwaltung des gesamten Rechenzentrums über eine einzige Oberfläche ('single pane of glass'). ABB Decathlon for Data Centers (DDC) liefert z.B. Einblicke in die Stromversorgung und Kühlung, wobei die offenen Protokolle der IEC61850 die Integration vorhandener Geräte und Systeme ermöglichen. Dank der IEC61850-basierten Peer-to-Peer-Kommunikationsfähigkeiten von Komponenten wie den Relais der ABB Relion-Reihe oder den Leistungsschaltern der Emax-Reihe ist es nur ein kleiner Schritt von der Steuerung und Überwachung durch das DCIM-System zur Echtzeit-Interaktion mit dem Subsystem (z.B. einem USV-Leistungsschalter). Höhere Zuverlässigkeit, höhere Selektivität, kürzere Reaktionszeiten im Fehlerfall und die Möglichkeit zur Implementierung von Fehlertoleranz und integrierten Diagnosen sowie eine Vielzahl weiterer Vorteile machen die IEC61850 zum geeigneten Standard für Rechenzentren.
Die IEC61850 ist ein etablierter Kommunikationsstandard für die Stationsautomatisierung. Die hohe Zuverlässigkeit, integrierte Diagnose, hohe Selektivität, schnellere Reaktion im Fehlerfall und höhere Fehlertoleranz, die die IEC61850 verspricht, macht sie zum geeigneten Standard auch für die Stromversorgungsinfrastruktur von Rechenzentren.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Veröffentlichung der IEC61850 im Jahr 2004 die Welt der Schaltanlagenautomatisierung revolutioniert hat. Die IEC61850 - zu der ABB maßgeblich beigetragen hat - stellt ein standardisiertes Rahmenwerk für die Schaltanlagenintegration dar und beschreibt die Kommunikationsanforderungen, die funktionalen Eigenschaften, die Struktur der Daten in Geräten, die Benennungskonventionen für die Daten, die Art und Weise, wie Anwendungen interagieren und die Geräte steuern, sowie die Art und Weise, wie die Konformität mit der Norm geprüft werden sollte. Die Fähigkeiten der IEC61850 zur Integration von Schutz- und Überwachungsfunktionen in Nieder- und Mittelspannungsanlagen wurden schnell erkannt, und mittlerweile wird die Norm zunehmend für Anwendungen im Nieder-, Mittel- und Hochspannungsbereich eingesetzt. Zu den Geräten, die von einer Funktionalität gemäß IEC61850 profitieren, gehören Schutzrelais, Leistungsschalter, Kommunikations-Gateways, speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) und Scada-Architekturen (Supervisory Control and Data Aquisition).
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ABB Stotz-Kontakt GmbH
Dieser Artikel erschien in SCHALTSCHRANKBAU 5 (September) 2021 - 01.09.21.Für weitere Artikel besuchen Sie www.schaltschrankbau-magazin.de