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Kolumne von Michael Lind

Bloß nicht bewegen

Der Brexit ist beschlossene Sache. Doch deutsche Unternehmen zeigen sich seltsam unbeeindruckt von den wirtschaftlichen Folgen, die der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union ihnen bescheren dürfte.

Bild: Michael LindBild: Michael Lind

Nun kann man natürlich sagen, dass es bis Ende März 2019, wenn die Scheidung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU endgültig vollzogen werden wird, noch ein bisschen Zeit sei. Dazu passt, dass die Austrittsverhandlungen zwischen beiden Parteien seit Monaten schon in einer Sackgasse stecken. Das ganze Szenario erinnert fatal an das berühmte Beamten-Mikado: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Als Beobachter muss man unwillkürlich den Eindruck gewinnen, dass London die Trennungsmodalitäten aussitzen will, denn es geht hierbei - wie bei einer ganz profanen Ehescheidung - vor allem um Geld. Um sehr viel Geld.

100 Milliarden Euro fordert die EU einer unbestätigten Meldung der Financial Times zufolge von Großbritannien. Finanziert werden sollen damit Verpflichtungen, Zusagen, Projekte und dergleichen mehr, welche die Briten in 40 Jahren EU-Mitgliedschaft eingegangen sind, die nun aber ohne sie realisiert beziehungsweise weitergeführt werden müssen. Ob diese Forderungen zu recht bestehen oder nicht - es ist illusorisch zu denken, dass die britische Regierung klaglos eine derartige Summe nach Brüssel überweisen wird. Die konservative Regierungspartei um Premierministerin Theresa May hat nämlich ein ganz anderes Problem: Sie muss den Unternehmen in England, Nordirland, Schottland und Wales beibringen, dass es für sie ab 2019 möglicherweise keine Zollunion mehr geben wird, sondern Zollschranken. Mit anderen Worten: Für jede popelige Schraube muss der insulare Importeur vier Prozent Zoll zahlen.

Welche Mehrkosten damit auf britische Unternehmen zukommen wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Vereinigte Königreich nach den USA und Frankreich der drittwichtigste Exportmarkt für Deutschland ist. 86,15 Milliarden Euro hat im vergangenen Jahr der Wert deutscher Exporte dorthin betragen. Noch augenfälliger wird es, wenn man sich die Exporte aller EU-Mitgliedsländer nach Großbritannien anschaut. Da stehen 2016 Waren im Wert von nicht weniger als 290,42 Milliarden Euro zu Buche, auf die, wie gesagt, ab Ende März 2019 vier Prozent Zoll erhoben werden soll. Geld, von denen weder Exporteure noch Importeure auch nur einen müden Cent sehen.

Dagegen explodiert der bürokratische Aufwand auf beiden Seiten. Auf eine halbe Milliarde Euro schätzt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, die zusätzlichen Verwaltungskosten, die im Zuge des Brexit auf deutsche Unternehmen alljährlich zukämen. Das gleiche kommt auch auf britische Unternehmen zu, die für jede Aus- und Einfuhr entsprechende Zollformalitäten zu erfüllen haben.

Eigentlich müsste diese Konstellation alle Unternehmen mit einem nennenswerten Geschäftsanteil im Vereinigten Königreich veranlassen, sofort eine Produktionsstätte auf der EU-abtrünnigen Insel zu eröffnen, um den dortigen Kunden, potentiellen Interessenten und sich selbst diese Mehrkosten und weitere Unbill zu ersparen. Das gilt allzumal für Unternehmen der Roboter- und Automatisierungsbranche.

Auch wenn der Anteil der Industrie am britischen Bruttoinlandsprodukt nur mehr knapp 20 Prozent beträgt - es gibt auf der Insel jede Menge produzierende Unternehmen, allen voran Automobil- und Elektronikhersteller, Chemie- und Pharmaproduzenten, es gibt eine florierende Lebensmittel- und Getränkeindustrie, eine prosperierende Kunststoff- und die Verpackungsindustrie. Eine recht ausgewogene Mischung aus Automotive und General Industry also. Und alle Unternehmen in diesen und weiteren Branchen kranken daran, dass es keine gut ausgebildeten Fachkräfte gibt.

Welche Voraussetzungen und Argumente braucht es denn noch für einen Roboter- oder Anlagenbauer, um auf der Insel aktiv zu werden? Sogar der Wettbewerb ist überschaubar. Die einstmals ansehnliche einheimische Automatisierungsbranche hat sich Mitte der 1990er Jahre selbst zerlegt.

Doch weit gefehlt. Es zieht niemanden nach Great Britain. Und die Automatisierungsunternehmen, die schon dort sind, verharren in Schockstarre, verunsichert, was Brüssel und London wohl noch ausbrüten. Angesichts dessen muss man sich allen Ernstes fragen, ob wir gerade die Chance verpassen, einen (zugegeben kleinen) Markt zu erobern, der aber immerhin Wachstumspotenzial hat. Sicher freut's die Chinesen.

TeDo Verlag GmbH

Dieser Artikel erschien in ROBOTIK UND PRODUKTION 4 2017 - 30.10.17.
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