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Fertigungsorganisation

Von der Werkstattfertigung zur Selbstorganisation

Mit steigender Variantenvielfalt sinkt bei den gängigen Konzepten zur Fertigungsorganisation die produktive Zeit der Mitarbeiter in Montage und Fertigung. Um Ursachen wie die Taktzeitspreizung in den Griff zu bekommen, könnten Fabriken starre durch modulare Strukturen ersetzen. Die Technik dafür ist vorhanden.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik
Beispiel einer neuen Linienarchitektur mit dezentraler Kommunikation

Effiziente Planung und Steuerung kompletter Produktionsbetriebe oder kleinerer Einheiten wie Werkstätten, Fertigungssegmenten oder -inseln ist seit langem Gegenstand von Forschung, Entwicklung und praktischer Anwendung.

Bild: Hauertmann, W., et.al.Bild: Hauertmann, W., et.al.
Nutzen der Vorteile von Werkstatt- und Fließfertigung in dezentralen Strukturen

Bild: Pröpster, 2015
Beispiel der Austaktung in der Variantenfließmontage bei Auslegung auf eine durchschnittliche Produktvariante

Im Kern geht es immer darum, Liefertermine einzuhalten, die erwartete Qualität herzustellen, zu wettbewerbsfähigen Herstellkosten zu produzieren und das Produktionssystem zu optimieren. Orientiert an diesen drei Zielen haben sich im Lauf der Zeit für die verschiedenen Arten der Fertigung (Großserien-, Kleinserien- oder Einzelfertigung) passende Organisations- und Steuerungsprinzipien entwickelt.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Bild: Röhrig, M.
Beispiel für ein Werkslayout nach Werkstattprinzip

Reaktionszeiten unzureichend

Die klassische auftragsbezogene Kleinserien- oder Einzelfertigung wird oft nach dem Werkstattprinzip ausgeführt, wonach gleiche Betriebsmittel in Werkstätten zusammengefasst sind, etwa Werkzeugmaschinen zur Teilfertigung in der Zerspanung. Bei mehrstufigen Produkten kann dadurch ein unübersichtlicher Materialfluss entstehen, da Bauteile wiederholt zwischen den Werkstätten hin- und hertransportiert werden. Typisch für eine solche Werkstattfertigung ist die losweise Fertigung und deren Feinplanung mit einer Fertigungsfeinplanung. Dabei ist der zeitliche Ablauf der Fertigung an Lose gebunden. Erst wenn das letzte Werkstück eines Loses bearbeitet ist, werden alle Teile des Loses zur nächsten Verrichtung transportiert. Die Feinplanung erfolgt meist im Nachgang zu einer MRP II-Planung, deren Ergebnisse terminierte Fertigungsaufträge sind. Kurzfristige Reaktionen auf Änderungen in der Fertigung sind in der Feinplanung heute kaum möglich. Der Grad der Autonomie ist gering, da die Fertigung den durch einen Feinplanungsalgorithmus automatisch berechneten oder durch einen Disponenten manuell angepassten Plan ausführen muss.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Unteilbare Ressourcen

Alternativ zum Prinzip der Werkstattfertigung wurde in den 1990er Jahren die Fertigung in dezentralen Strukturen (Fertigungsinseln, -segmente, -zellen, Fraktale und so weiter) eingeführt. Dabei erstellen die Fertigungsmitarbeiter in Gruppenarbeit Produktteile oder Endprodukte möglichst komplett und übernehmen dispositive und steuernde Aufgaben. Fertigungsinseln und die dort eingesetzten Teams stellen jeweils gleiche oder ähnliche Produkte her, die vorher als Teilefamilien festgelegt wurden, zum Beispiel rotationssymmetrische oder prismatische Teile einer bestimmten Größe. Da die Mitarbeiter selbststeuernde Aufgaben übernehmen, ist der Grad der Autonomie bei einer solchen Fertigungsorganisation höher. Denkt man die Idee der Komplettbearbeitung konsequent zu Ende, stößt man auf das Problem der 'nicht teilbaren-Ressourcen', etwa eine zentrale Lackieranlage oder eine Härterei.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Arbeiten genau im Takt

In der Serienfertigung hat sich vielfach ein Linien- oder Fließprinzip durchgesetzt, wie man es aus der Automobilmontage kennt: die Maschinen und Arbeitsgänge sind entsprechend der Bearbeitungsreihenfolge angeordnet. Die Arbeitsfolge ist vielfach getaktet, das heißt für Arbeitsvorgänge an einer Station ist eine bestimmte Zeit fixiert. Das Werkstück bewegt sich kontinuierlich oder wird nach Ablauf der Taktzeit in die nächste Bearbeitungsstation transportiert.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Das Prinzip Supermarkt

Mit dem Aufkommen der Lean Production in den 1990er Jahren setzte sich das Prinzip der Pull-Steuerung vielfach in Fertigungsbetrieben durch. Charakteristisches Kennzeichen dafür ist, dass nur gefertigt wird, wenn ein echter Kundenbedarf vorliegt. Losgrößen werden auf Tageslose heruntergebrochen. Die produzierende Stelle erhält ein Signal, welche Teile in welcher Menge zu welchem Zeitpunkt bei der verbrauchenden Stelle benötigt werden. Dieses Prinzip wird auch als Kanban-Prinzip bezeichnet. Verbunden mit der getakteten Fließfertigung und deren Steuerung nach dem Prinzip der Perlenkette, hat die Automobilindustrie das Kanban-Prinzip in den letzten 20 Jahren ausgefeilt. Populär wurde das Konzept der Perlenkette in den 1990er Jahren mit dem Bau des Daimler-Werkes in Rastatt und der Einführung der Mercedes A-Klasse im Jahr 1997. Dabei werden "die einzelnen Kundenaufträge (Perlen) (?) bereits vor Produktionsstart in eine feste, unveränderbare Auftragsreihenfolge (Perlenkette) gebracht und bestimmen damit ab dem Zeitpunkt der Einplanung" sämtlich Abläufe im Automobilwerk, z.B. die Reihenfolge der zu fertigenden bzw. zu montierenden Karossen, die Anlieferung von Teilen, etc. [Quelle: Weyer, M., 2001]. Zur Planung der Reihenfolge der Fahrzeuge in der Perlenkette, die auch als Sequenz bezeichnet wird, existieren Ziele wie:

  • • die Arbeitsinhalte an den einzelnen Stationen möglichst gleichmäßig zu verteilen (Austaktung) und
  • • den Teileverbrauch am Band so zu glätten, dass die bereitgestellten Ladungsträger gleichmäßig entleert und damit - nach dem Kanban-Prinzip - kontinuierlich nachgeliefert werden können.

Je mehr Varianten zu fertigen und zu montieren sind, umso größer wird die Taktzeitspreizung, weil sich die Arbeitsinhalte an einem Arbeitsplatz oder einer Montagestation zwischen den einzelnen Varianten signifikant unterscheiden. Damit sinken die produktiven Zeiten der Mitarbeiter in Fertigung und Montage und die Herstellung wird teurer.

Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Antwort auf steigende Varianz

Um der Variantenvielfalt zu begegnen, existieren seit einiger Zeit Arbeiten zur Modularisierung und Flexibilisierung von Fertigungsstrukturen, unter anderem für bislang nach dem Linien- oder Fließprinzip organisierten Serienfertigungen. Kernidee ist es, anstatt spezialisierter Produktionseinrichtungen, die teilweise eine eigene Infrastruktur erfordern, etwa Einschienenhängebahnen oder Schubpalettenförderer, eher universell nutzbare Maschinen und Anlagen zu installieren und auf Spezialeinbauten im Hallenboden oder in einer Fördertechnikebene zu verzichten. Die universell nutzbaren Produktionsanlagen werden vielmehr für eine bestimmte Aufgabe konfiguriert und können bei Bedarf schnell für neue oder geänderte Aufgaben umkonfiguriert werden. Dies bedarf wandlungsfähige Hardware wie Roboter und Manipulatoren, vor allem aber geeignete Steuerungstechnik, Software und Kommunikationstechnik. Eines der bekanntesten Beispiele für eine modulare Fertigung ist die mehrfach ausgezeichnete Fabrik von SEW Eurodrive in Graben-Neudorf, in der das komplette Layout und selbst bislang als nicht-teilbar geltende Ressourcen wie Lackieranlagen modularisiert wurden.

Wandel der Materialversorgung

Für Serienfertigungen wie in der Automobilindustrie bedeuten diese Ansätze, komplette Bandabschnitte, in denen die Taktzeitspreizung aufgrund der Variantenvielfalt zunimmt, zu modularisieren und den Materialfluss beispielsweise durch fahrerlose Transportsysteme (FTS) zu organisieren - somit nimmt jedes Werkstück einen individuellen Weg durch die Montagemodule, die wiederum von FTSen mit vorkommissionierten Warenkörben an Teilen versorgt werden. Dieses Szenario erfordert die permanente Lokalisierung und Online-Verfolgung von Werkstücken, FTSen zu deren Transport, Anbauteilen sowie deren Transportmittel. Eine Fördertechnik in mehreren Etagen wie beispielsweise in heutigen Automobilwerken ist dann nicht mehr erforderlich; auch spurgebundene Fahrzeuge werden weitgehend aus der Fabrik entfernt. Die heutige (meist ausgelagerte) Logistik mit externen Lieferantenlagern, Supermärkten, Routenzügen zur Bandversorgung und Kanbanregalen am Band wandelt sich hin zur Kommissionierung von Teilesätzen für bestimmte Verbauumfänge. Damit kommt allerdings das Steuerungskonzept der Perlenkette an seine Grenzen. Die Steuerung wandelt sich von einer eher zentralen zu einer dezentralen Steuerung, bis hin zu hierarchischen Schwärmen, deren Teilnehmer kollaborativ und (teil-)autonom zusammenarbeiten.

Dezentrale Steuerung beherrschen

Die Kommunikationstechnik und Algorithmik für solche Umgebunden ist heute schon vorhanden. Die verfügbaren Werkzeuge ermöglichen das Prinzip der Selbstorganisation durch verteilte Planung. Basis kann ein Modellierungsansatz sein, der von der detaillierten Abbildung physikalischer Prozesse bis hin zu Lieferbeziehungen zwischen Unternehmen skaliert. Für zu modellierende Szenarien nutzt etwa das Fraunhofer IOSB einen Algorithmus zur Optimierung sequentieller Entscheidungen. Der Algorithmus verbindet Techniken für die kombinatorische und die kontinuierliche Optimierung: Je nach Szenario kann der Algorithmus kombinatorische Fertigungsfeinplanung (Scheduling) vornehmen oder weltweite Lieferbeziehungen unter Einbezug von Unsicherheiten und Risiko optimieren. Auch verteilte Entscheidungen sind möglich: Jeder teilnehmende Agent hat einen lokalen Handlungsraum, in dem er den Systemzustand beobachten und handelnd eingreifen kann. Die Agenten handeln kooperativ. Sie sind also an der Maximierung der Gesamtwohlfahrt über alle Agenten hinweg interessiert [Pfrommer, J., 2019].

:Literaturhinweise:

? Hauertmann, W., et.al.: Arbeitsorganisatorische Gestaltungsmaßnahmen. In: Mertins, K.; Schallock, B.: Handbuch der humanen CIM-Gestaltung. Berlin: IPK, 1991.

? Pfrommer, J.: Distributed Planning for Self-Organizing Production Systems. Dissertation KIT, Juli 2019.

? Pröpster, M.H.: Methodik zur kurzfristigen Austaktung variantenreicher Montagelinien am Beispiel des Nutzfahrzeugbaus. TUM, 2015.

? Röhrig, M.: Variantenbeherrschung mit hochflexiblen Produktionsendstufen, Dissertation Leibniz Universität Hannover, Düsseldorf: Fortschritt-Berichte VDI, 2002.

? Weyer, M.; Spath, D.: Das Produktionssteuerungskonzept "Perlenkette". Herausforderungen und Handlungsempfehlungen der Implementierung. ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb; 2009, Nr. 12; S. 1126-1130.

Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik

Dieser Artikel erschien in MES Wissen Kompakt (April) 2020 - 08.04.20.
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